Am Puls der Zeit
Abseits ausgetretener Wege
Frage:
„Bei diesem Altentreffen gibt es also keine Satzung oder sowas?“
Antwort:
„Ja, genau, seit zwanzig Jahren!“
Am Anfang stand das Unbehagen. Denn Ende der 70er Jahre bewegte sich die Altenarbeit auf ausgetretenen Wegen. Die Veränderungen des Alters und des Altersbildes, die gesellschaftliche Bedeutung der demographischen Entwicklung und die Chancen einer älter werdenden Gesellschaft waren noch nicht im öffentlichen Bewußtsein. Es gab ein Defizit an öffentlicher Diskussion über Altenarbeit und Altenpolitik. Und das Unbehagen darüber war der Anlaß zu der ersten Veranstaltung dieser Reihe, die nunmehr auf 20jähriges Bestehen zurückblicken kann.
Vieles hat sich inzwischen geändert, manches auch zum Besseren, und man kann wohl nachweisen, daß die in dieser Dokumentation dargestellten Veranstaltungen vielfach ihrer Zeit voraus waren. Das betrifft nicht nur die Themen, die öffentlich zur Diskussion gestellt wurden, und ihre Präsentation, sondern auch die Arbeitsweise des Veranstalterkreises. Beides – das was öffentlich dargestellt wird, und das, was sich im Vorfeld dessen abspielt – gehört aufs Engste zusammen. Beides bildet eine Einheit, beides ist unverwechselbar in der hiesigen Altenarbeit und Voraussetzung für das lange Bestehen dieser Arbeit.
Die Zeichen der Zeit erkennen
Die Zeichen der Zeit erkennen – so wurde einmal formuliert, was die erste Aufgabe der Veranstaltergruppe sein sollte. Das heißt: hören, fragen, spüren, welche Themen die Menschen beschäftigen, welche Sorgen sie drücken, und herauszufinden suchen, welche Entwicklung die Politik nehmen wird, die aller Leben bestimmt. Dieses erste Ziel hatte ganz praktische Folgen: vor allem das lange Ringen um gemeinsame Einschätzungen. Es wurde gründlich diskutiert, was aktuell ist, welche Entwicklungen kommen könnten und wie man die Themen würde anpacken können. Die Unterschiedlichkeit von Alter und Lebensgeschichte und politischer Einstellung der Beteiligten bewirkte, daß diese Arbeitsphase zu den wichtigsten und intensivsten gehörte.
Position beziehen
Diese Themendiskussion sollte in der Regel dazu führen, daß der Veranstalterkreis Positionen entwickelte, die dann öffentlich zur Debatte gestellt wurden. Positionen – denen man zustimmen oder die man kritisieren kann. Die Veranstaltungsteilnehmer – selten wird von „Publikum“ gesprochen, weil das zu wenig die aktive Rolle der Besucher ausdrückt – wurden also nicht mehr oder weniger kunstvoll unter Einsatz aller pädagogischen Mittel zu einer Position hingeführt, die sich die Veranstalter ausgedacht hatten. Sie wurden statt dessen konfrontiert mit einer erarbeiteten Position und konnten diese akzeptieren, verändern oder ablehnen. Konsens konnten das Ergebnis sein, es konnte aber auch der Konflikt am Ende stehen.
Formen entwickeln
Wer die Dokumentation aufmerksam liest, wird feststellen, daß kaum eine Veranstaltung der anderen glicht. Es gab eine große Experimentierfreude bei der Veranstaltungsform, die nicht nur aus dem Zwang, stets etwas Neues bieten zu müssen, entstand. Sie war vielmehr auch Ausdruck der Kreativität der Veranstaltergruppe und vor allem des Bemühens, eine für das jeweilige Thema angemessene Form der Behandlung zu finden. Es konnte gut sein, einen Vortrag zu hören, aber es war auch hilfreich, wenn es darum geht, Politik und politische Abläufe zu verstehen, daß die ganze Veranstaltung mit allen Beteiligten zu einem großen Rollenspiel wurde, in dem man sich in andere hineinversetzte.
Besucher teilnehmen lassen
Man konnte sich auf unterschiedliche Weise an einer Veranstaltung beteiligen – durch Zuhören, Mitdenken, Mitreden, Mitmachen, durch anschließendes Lob oder durch Kritik.
Alle Formen hatten ihre Berechtigung und ihre Begründung. In dieser Dokumentation gibt es Veranstaltungen, die über das hinausgingen: etwa wenn sich die Besucher unversehens nach Betreten des Saal in einem Parlament oder einer Kneipe wiederfanden und so zu Parlamentariern oder Gästen wurden. Es waren vielleicht Erfahrung und Vertrauen in die Veranstalter dafür bestimmend, daß sich die Besucher auch auf solche Experimente einließen. Im übrigen galt generell der Grundsatz, daß es schlimmer sei, ältere Menschen zu unterfordern als sie zu überfordern. Vor allem aber kam es darauf an, nicht nur gesellschaftliche Probleme, sondern auch die Verantwortung der älteren Generation für deren Lösung zu thematisieren.
Mut zu offenen Fragen
Wer sich mit aktuellen Zeitfragen befaßt, kann nicht immer zu fertigen Antworten kommen. Dieses Problem machte auch dem Veranstalterkreis zu schaffen. Oftmals blieb dann nur die Möglichkeit, unterschiedliche Aspekte, nachdrückliche Fragen und mögliche Positionen darzustellen. Eine Not, aus der eine Tugend wurde. Denn die Veranstaltungsteilnehmer erfuhren, wo die Schwierigkeiten lagen, sie konnten sie nachvollziehen, ohne den Mut zum Mitdenken und Mitreden zu verlieren.
Die Öffentlichkeit informieren
Demokratische Meinungsbildungsprozesse brauchen Zeit, denn viele sind beteiligt und viele Antworten sind vertretbar. Die langjährige Öffentlichkeitsarbeit um diese Veranstaltungsreihe hatte nicht nur den Zweck, zu berichten, was gewesen ist. Sie sollte auch die informieren und miteinbeziehen, die an einer Veranstaltung selbst nicht teilnehmen konnten. Kontinuität und Regelmäßigkeit trugen dazu bei, den politische Stellenwert der Veranstaltungsreihe zu untermauern.
Wesentlich für die Arbeit war aber nicht nur, was sich direkt vor und bei Veranstaltungen abspielte. Auch die Struktur des Veranstalterkreises selbst hat einige Besonderheiten.
Generationenübergreifendes Arbeiten
Die gemeinsame Aufgabe hielt die Generationen – meistens waren drei davon vertreten! – zusammen. Man nahm sich ernst, und das zeigte sich am deutlichsten im Streit. Im Streit um Themen und im Streit der Meinungen prallten Jung und Alt oft hart aufeinander. Als schwierig empfand das keine von beiden Seiten. Im Gegenteil: wer sich über Sachfragen streitet, nimmt sich ernst. Nur wenn man jemanden nicht erst nimmt, kann einem dessen Meinung gleichgültig sein. Generationenübergreifend arbeiten hieß aber auch, daß die Arbeit weiterging, wenn jemand nicht mehr konnte. Ältere Mitglieder des Veranstalterkreises ließ die Gesundheit im Stich, sie mußten aufhören, leben im Heim oder sind gestorben. Aber ihre Arbeit geht weiter, ihre Ziele und Ansichten sind nicht verlorengegangen. Und andersherum funktionierte es auch: Jüngere zogen weg oder konnten nicht mehr mitarbeiten, aber ihre Traditionen leben fort, weil das Leben der älteren in mancher Beziehung doch stabiler ist.
Zwang zum Erfolg
Die nicht von Anfang an, aber doch seit langem bestehende Vereinbarung, zweimal im Jahr eine Veranstaltung durchzuführen, bewirkte einen Zwang zum Erfolg. Der Erfolg von Veranstaltungen definierte sich immer wieder neu, aber daß es gelang, zwanzig Jahre lang diese Vereinbarung umzusetzen, ist ein Erfolg an sich. Die Veranstaltergruppe hat sich diesem Druck bisher nicht entzogen, obwohl es immer wieder schwierige Zeiten zu überwinden galt.
Einfache Struktur
Formal geregelt ist eigentlich wenig. Die Sitzungen finden beim Kreuzviertel-Verein statt, und der schreibt auch die Protokolle. Sonst gibt es keine Aufgaben oder Funktionen, die nicht jederzeit neu verteilt werden können. Mehr ist auch nicht nötig.
Kontinuität
Kontinuität gab es nicht nur personell, sondern auch örtlich. Alle Veranstaltungen bis auf eine fanden im Kreuzviertel statt, und insgesamt alle bis auf drei im Kreuzsaal. Nur Umbau und Renovierungsarbeiten haben die Ausnahmen veranlaßt. Personen und Ort gaben die Veranstaltungsbesuchern einen verläßlichen Rahmen, innerhalb dessen sie sich auf Ungewohntes und Ungeahntes einlassen konnten. Auch bei – oft ja erst langfristig erzielten – Erfolgen ergab sich die Gewißheit, diese gemeinsam erzielt zu haben.
Am Anfang stand ein Unbehagen, aber am Ende des in dieser Dokumentation beschriebenen Zeitraums steht auch eine gewissen Zufriedenheit über das , was erarbeitet und erreicht wurde. Ein Experiment war erfolgreich. Es hat gezeigt, wie wichtig es ist, bestimmte Themen in die Diskussion zu bringen. Es hat gezeigt, daß man dafür Formen finden kann, die es allen ermöglichen, sich zu beteiligen, ohne daß Qualität verlorengeht – nein: so daß die Qualität gesteigert wurde.
Niemand von denen, die sich von Anfang an, seit einigen Jahren oder auch nur zeitweise darauf eingelassen hat, hat das bereut. Manche Wege werden begangen, ohne daß man weiß, wohin sie führen. Man muß diese Wege aufmerksamer gehen, aber man erlebt auch mehr dabei.
Theo Hengesbach
Theo Hengesbach, Sozialarbeiter beim Kreuzviertel-Verein, ist seit 1980 Sprecher des Arbeitskreises Altenpolitik (früher: Arbeitskreis Dortmunder Altentreffen).
Seit 1980 kommen zweimal im Jahr im Dortmunder Kreuzsaal ältere und jüngere Menschen zusammen, um über Altenpolitik und Gesellschaftspolitik, über Politik in Stadt, Land und Bund zu diskutieren. So vielfältig wie die Themen waren auch die Formen der Veranstaltungen. Diese Dokumentation beschreibt die Geschichte der wohl ältesten Veranstaltungsreihe in der Altenarbeit mit einem durchgehend politischen Anspruch.